Dieser Roman zerstört sich selbst:
Marcel Beyer: Spione.
DuMont, 2000. 350 S.
Dieser Roman zerstört sich selbst. Er verwirrt die Leser, macht aus ihnen Komplizen und Spione, lockt sie auf falsche Fährten und läßt sie ratlos zurück. Marcel Beyer, Jahrgang 1965, beschäftigt sich in seinem Roman „Spione“ erneut mit der menschlichen Wahrnehmung. Hatte er sich in „Flughunde“, dem vorherigen Roman, mit den medialen Implikationen des Hörens beschäftigt, geht es diesmal um das Sehen, um Photographien, Rekonstruktionen und optische Täuschungen.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Anhand von alten Photos versuchen ein Junge, seine zwei Cousinen und sein Cousin etwas über ihre verstorbene Großmutter zu erfahren. Erschwert wird die Suche durch die neue Frau des Großvaters, die Alte, die sich zusammen mit dem Großvater von der Familie zurückgezogen und den Kontakt abgebrochen hat.
Der Roman ist dabei nicht chronologisch aufgebaut, er springt mal in die 30er Jahre, mal in die 60er und 70er Jahre – denn erzählt wird auch die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und seiner Spuren im Nachkriegsdeutschland.
Die gesamte Handlung ist ein Puzzle. Die Protagonisten schildern ihre jeweils subjektiven Perspektiven, die vom Leser zu einer zusammenhängenden Geschichte rekonstruiert werden müßen. Da liegt das Problem: Beyer spielt mit der perspektivischen Relativität. Er führt die Leser, die sich mit den jeweiligen Figuren identifizieren und durch ihre Augen blicken, aufs Glatteis .
Gewißheiten entpuppen sich bei Beyer als subjektive Konstruktionen der Protagonisten. Haben wir es mit ihren Erfindungen oder ihren Wahrheiten zu tun? Und was, so lautet die Frage, ist überhaupt die Wahrheit? Wie läßt sie sich finden?
"Was ich nicht sehen kann, muß ich erfinden. Ich muß mir Bilder selbst ausmalen, wenn ich etwas vor Augen haben will. Es bleibt keine andere Möglichkeit, jeder erwachsene Mensch ist sich dessen bewußt, hat gelernt, daß die ausgedachten Bilder unersetzlich sind. Vielleicht kann man an dieser Einsicht den Erwachsenen erkennen. Als Kind, noch als Jugendlicher erscheinen einem die eigenen Erfindungen als Möglichkeiten, hinter denen sich eine Wirklichkeit verbirgt, und diese Wirklichkeit, glaubt man, wird irgendwann zum Vorschein kommen, sie wird die erfundenen Bilder nach und nach zurück ins Dunkel sinken lassen“
Diese zentrale Passage rollt ein wichtiges Motiv des Romans auf. Wahrheit ist zum einen das, was gesehen wird. Mit den eigenen Augen. Versehen eingeschlossen. Die Photos, auf denen die Großmutter erscheint, sind verschwunden, vermutlich vernichtet worden. Warum ist unklar. Also machen sich die Kinder daran, die verbliebenen Photos zu interpretieren, Geschichten und Zusammenhänge zu erfinden. Immer mehr verstricken sie sich in dieser Phantasiewelt, suchen nach Verbindungen, rekonstruieren, schaffen schließlich ein virtuelles Familienalbum, mit Photos, die nur ihren Köpfen existieren.
Wie Spione dringen sie in die Vergangenheit ein, spekulieren, suchen. Sie stoßen auf Spuren, die ins Dritte Reich führen. Parallel zu den Lesern machen sie sich an dem Puzzle zu schaffen, in der Hoffnung, es auflösen zu können. Doch es gibt nur Wahrscheinlichkeiten, keine Gewißheit. Inwiefern war ihr Großvater mit dem Dritten Reich verbunden? Wer war die Alte? Lebt ihre Großmutter etwa noch?
Eine Frage, die sich auch die Leser stellen müssen. Sind sie überhaupt in der Lage, das Puzzle, das Beyer ihnen aufgegeben hat, zu lösen? Ist es auflösbar? Nirgends eine Erzählinstanz, die ihnen sagt, was richtig und was falsch ist. Beyer erfindet subjektive Fragmente, paradoxe Geschichten.
Und er legt Fährten, die zu einer Lösung führen könnten: „Unsere Worte sind genug, nichts geht verloren. Ich brauche keine Beweise, hätte nicht einmal den Grabstein unserer Großmutter sehen müssen. Es ist nichts zu befürchten, ich kann auf meine erfundenen Bilder vertrauen.“
Beyer zeichnet das Bild einer Welt, in der es keine objektiven Wahrheiten gibt, sondern nur fiktionale Konstrukte, die für Wahrheiten gehalten werden. Auch sein Roman ist eine Fiktion. Wenn wir unsere persönlichen Erinnerungen und Sichtweisen für die Wahrheit halten, warum nicht auch diesen Roman, lautet die unterschwellige Frage, auch wenn es am Ende heißt: „Bei allen Figuren und Ereignissen im vorliegenden Roman handelt es sich um freie Erfindungen des Autors.“
Neben den Bildern thematisiert Beyer auch die Macht der Worte.
„Als Kind glaubt man den Eltern jedes Wort, man käme nicht auf die Idee, an ihren Worten auch nur im geringsten zu zweifeln. [...] Was immer ich mir nicht erklären kann, lasse ich stehen, ich lasse Widersprüche gelten, später glaube ich, werden sie sich in nichts auflösen, ich bin nur noch nicht alt genug, sie richtig zu begreifen.“
Wenn jemand etwas oft genug wiederholt, wird es wahr. So wie die erfundenen Geschichten der Kinder. Doch im Gegensatz zu den Worten hängt an Bildern noch immer die Vorstellung, sie seien objektive Zeugnisse. Beyer greift diese Vorstellung an, zeigt, wie durch Worte Bilder im Kopf entstehen, wie diese sich verändern können, wie Erinnerungen verklärt, wie Fotos fehlgedeutet werden. So wie die Leser sich in kontemplativer Haltung mit den Aussagen der Figuren identifizieren, ihre Sicht übernehmen und dabei das Gemachtsein des Textes verdrängen, blenden die Betrachter von Fotos oft die Position des Fotografen aus, fragen nicht danach, warum dieses Foto ausgerechnet so aufgenommen wurde, wie es erscheint.
Die Wehrmachtsausstellung macht deutlich was passiert, wenn Bilddokumente, die als Quellen genutzt werden sollen, nicht sorgfältig geprüft und hinterfragt werden. Luftaufnahmen, wie sie auch wieder im Krieg gegen Serbien zu sehen waren, zeigen, wie stark Fotos und Bilder die Betrachter manipulieren können.
„Da sieht er aufgerissene Straßen mit Fahrzeugkolonnen, da sieht er brennende Gebäude und die vielen frischen Lücken, Tote jedoch nicht.“ heißt es im Roman bezüglich der Luftangriffe auf Spanien durch die „Legion Condor“.
Das "Dritte Reich" ist bei Beyer ständig präsent, vor seinem Hintergrund reflektiert er die Manipulationen an der Wirklichkeit. In „Flughunde“ möchte der Protagonist im Auftrag des Regimes die Kehlköpfe von Gefangenen verändern. Seine biologistische Vorstellung geht dahin, daß die fremden Kehlköpfe den arischen angepasst werden, daß sie also durch medizinische Eingriffe zu Deutschen gemacht werden können. Seine Ideen entpuppen sich als der selbe Unsinn, wie die phrenologischen Theorien, welche die Nazis in der Folge von Lothar Gall annahmen. Die Opfer bezahlen diese Irrtümer mit einem lautlosen Tod.
Auch im Deutschland der „Spione“ finden sich die Spuren der Nazis wieder. Auf der Schanze, einem Schießplatz in der Nähe einer Waffenfabrik, in der noch die Eltern der Kinder gearbeitet haben, finden sich Fußabdrücke und leere Patronenhülsen. Ein nächtlicher Schütze als gespenstisches Echo des Dritten Reiches.
Und dann gibt es die Sporen, die durch die spätsommerliche Luft der Gegend fliegen. „Ehrlich gesagt mag ich den Geruch nicht besonders gern, der mit den Sporen über die Felder kommt. Eigentlich wünsche ich mir diesen Geruch nach Sonnenuntergang am Hügel weg, so süßlich und dicht, als könnte man bald nicht mehr atmen.“ Es ist der Geruch von Auschwitz, der über der Gegend liegt. Erst als die Kinder schon erwachsen sind – nicht zufällig in der Zeit der RAF-Aktivitäten – lüftet sich das Geheimnis der Sporen. Sie entstammen einem riesigen und giftigen unterirdischen Pilz, der sich unter der gesamten Gegend ausgebreitet hat und nun freigelegt wird. Es ist nicht abwegig, den Pilz als eine Metapher für die Vergangenheit zu lesen, seine Freilegung als deren Offenlegung.
Marcel Beyer hat also wieder einen intelligenten Roman abgeliefert. Wer sucht, wird darin die aktuellsten Literaturtheorien wiederfinden, verpackt in einen Krimi ohne Opfer. Dies ist kein Unterhaltungsroman. Es gibt nur wenige Dialoge, wenig Handlung, dafür viele innere Monologe, die in einer nachdenklichen, sehr genauen Sprache verfasst sind. „Spione“ wendet sich an Leser, die reflektieren, was sie lesen.
Die so entstehende Künstlichkeit wirkt an einigen Stellen etwas unglaubwürdig, insbesondere dort, wo Kinder die Sprache der Erwachsenen sprechen. Das klingt dann, als hätte der Autor ihnen seine Worte in den Mund gelegt, als nähme er sie als Figuren nicht recht ernst. Bedenkt man allerdings, das der Autor ständig auf die Künstlichkeit, das Gemachtsein des Textes verweist, erfüllt dieser Mangel möglicherweise einen Zweck.
Aufgebaut ist der Roman pyramidenförmig, erstes und letztes Kapitel sind mit „Sporen“ überschrieben, das Kapitel in der Mitte heißt, wie der Roman, „Spione“.
In ihm geht es um die (geheime) Geschichte der Großeltern. Da die subjektiven Perspektiven keine Kongruenz erzeugen, ließe sich der Roman vorzüglich in einen Hypertext umsetzen. Sicherlich würden einige Elemente des „suspense“ verloren gehen, doch die Spannung ist eher zweitrangig. „Spione“ ist kein Roman, der sich beim schnellen Überfliegen erschließt. Das ist für deutsche Verhältnisse nicht ungewöhnlich, aber schade. Was Beyer fehlt, ist die Fähigkeit, seine ohne Zweifel interessanten Themen in Geschichten zu verpacken, er müsste weniger philosophieren und mehr erzählen. Die Metapher des unterirdischen Pilzes geht in diese Richtung, aber erst, wenn ich seine Romane auch meiner Oma schenken könnte, wären sie perfekt. Kristian Kißling
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